Tagebuch aus Russland: Der Krieg und das Insulin
Im Leningradskaja Oblast ist es wie in ganz Russland: Wer auf Medikamente angewiesen ist, muss lange warten und sehr viel Rubel bezahlen.

A nna und ihre Familie sind Bekannte von mir. Sie leben in einer kleinen Stadt im Leningradskaja Oblast, der Region um St. Petersburg. Anna hat vier Kinder, zwei davon leiden an Diabetes. Ihr jüngster Sohn ist fünf Jahre alt, die Diagnose wurde im September 2023 gestellt. Damals erhielt Anna auf ärztliche Verschreibung kostenlos Insulin für ihre Kinder. Seit Kurzem muss sie jedoch das benötigte Medikament selbst bezahlen. Eine Packung reicht für etwa einen Monat und kostet 30 bis 50 Euro. Angesichts ihres Gehalts und ihrer beiden kranken Kinder ist das eine große Summe.
Offiziellen Angaben zufolge leiden in Russland mehr als fünf Millionen Menschen an Diabetes. Das sind mehr als drei Prozent der Bevölkerung, und diese Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Die Betroffenen haben Anspruch auf kostenlose Insulinversorgung, Insulinpumpen, Blutzuckermessgeräte und Verbrauchsmaterialien durch den Staat. In der Realität jedoch haben Patienten im ganzen Land Probleme, diese zu erhalten. Besonders akut ist für sie die Frage nach Insulin.
Die meisten Russen mit Diabetes bevorzugen importiertes Insulin. Russische Analoga sind bei weitem nicht für alle geeignet: Sie können allergische Reaktionen hervorrufen oder sind oft nicht ausreichend wirksam. Allerdings sind ausländische Medikamente für Diabetiker derzeit Mangelware.
Die Lieferengpässe für importiertes Insulin begannen bereits im März 2022. Zunächst waren sie auf Panikkäufe zurückzuführen, als viele Russen sich mit Vorräten eindeckten. Dann brachen aufgrund der gegen Russland verhängten Sanktionen viele Logistikketten für die Lieferung ausländischer Medikamente zusammen.
Derzeit sind die Insulinlieferungen aus dem Ausland zwar nicht vollständig eingestellt, aber zurückgegangen. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Logistik komplizierter geworden ist, aber auch darauf, dass Russland begonnen hat, Insulin selbst herzustellen und weniger Importe zu kaufen.
Kosten, Warten und dazu noch schlechte Qualität
Es ist derzeit praktisch unmöglich, ein Rezept für importiertes Insulin zu erhalten. Ärzte bieten ihren Patienten russische Generika an. Wenn diese nicht geeignet sind, müssen die Patienten entweder lange warten, bis das benötigte Medikament in einer Sozialapotheke erhältlich ist, oder sie müssen ihr importiertes Insulin selbst kaufen. Die Suche danach wird zu einer traurigen und schwierigen Aufgabe.
In den vergangenen Jahren sind die tatsächlichen Kosten für die Behandlung eines Patienten aufgrund von Preiserhöhungen fast um das Vierfache gestiegen, ohne dass der Staat mehr Geld bereitgestellt hätte. Die lokalen Gesundheitsbehörden versuchen, Insulin zu einem zu niedrigen Preis einzukaufen, weshalb sie lange Zeit keine Lieferanten finden können.
Während alle bürokratischen Verfahren laufen, warten die Patienten mehrere Monate auf die ihnen versprochenen kostenlosen Medikamente. Wenn man sie fragt, wie für sie Frieden und Sicherheit aussehen, dann antworten gewiss viele wie Anna: wie drei Packungen Insulin im Kühlschrank.
Ekaterina Kabanowa lebt als Journalistin in Russland.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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